Die Franzosenzeit und
der Kosakenwinter
von Hauptlehrer Heinrich Lammersmann 1930
X
Was der
Großvater am Herdfeuer erzählte, ist leicht zu sagen. War in den letzten
Wochen kein Viehhändler dagewesen und hatte Kühe, Ochsen oder gar Pferde
gekauft, dann waren es alte Erlebnisse aus seiner Jugendzeit und besonders aus
der Franzosenzeit und dem Kosakenwinter. Großvater war 1804 geboren, er hatte
als Junge jene aufgeregte, böse Zeit erlebt. Manches wußte er noch vom
Urgroßvater, der um 1760 geboren war und die französischen Emigranten
(Flüchtlinge aus Frankreich) hatte durch die Heimat ziehen sehen. Von der
Regierung des eigenen Landes hörte ich nie reden. Anscheinend kannte man auch
nichts davon. Zeitungen waren nur sehr selten und kamen nur in die Häuser der
Reichen und Gelehrten. Der häufige Wechsel der Landesherrschaft mochte die
Leute in Verwirrung gebracht haben. Die Franzosenzeit und der Kosakenwinter,
die saßen unauslöschbar im Gedächtnis der Alten und lieferten mit ihren
heiteren und grauenhaften Geschichten den Stoff für die Erzählungen in
unerschöpflicher Reihenfolge.
Vor dem Kriege erschrak man, aber vor den Franzosen hatte man keine
sonderliche Angst. Sie waren schon keine Fremdlinge mehr in unserer
Herrlichkeitsheimat. Im siebenjährigen Kriege hatten sie unsere Heimat
lange Zeit besetzt. Solange lagen die Truppen hier, daß ein französischer
Soldat für den Hof Rickert in der Oestrich eine schöne Küchenstanduhr
machte. Jedes Teilchen dieser Uhr war Handarbeit. Bis vor einigen Jahren hat
diese Uhr noch ihren Dienst versehen. Auf dem Zifferblatt war noch ein
schönes Bildchen von einer Tafelrunde gemalt. Diese Arbeit zeigt uns schon,
wie die Einquartierung sich zu den Quartiergebern stellte.
Die französische Revolution verjagte Tausende von Priestern, Mönchen und
Adeligen. Mit den zusammengerafften Resten ihres Vermögens, strebten alle
diese Unglücklichen dem katholischen Münsterlande zu, um dort bei den
Glaubensgenossen eine vorläufige Bleibe zu finden, bis die Ruhe und Ordnung
in der Heimat wieder hergestellt sei. Solche Emigranten wohnten bei Lütten
und Kniffmann in der Westrich. Bei Lütten war es ein gelehrter Pater, zu dem
die Leute viel Vertrauen hatten und sich Rat holten in Rechtsgeschäften und
Krankheitsfällen. Er soll sogar behexte Tiere und Menschen befreit haben. Das
Pastorat war vorübergehend auch häufig belegt mit flüchtenden Geistlichen
und Ordensleuten, die auf Münster weiterzogen. Manche Franzosen blieben auch
zurück und machten sich ansässig, trieben ein Gewerbe oder Handel und galten
unter den Bewohnern der Heimat als Gleichberechtigt. Sie verstanden es sehr
gut, sich durch ihre Geschicklichkeit und Handfertigkeit, durch ihre
Lebendigkeit und Freundlichkeit, sich den langsamen Westfalen anzubiedern und
sich einzuheiraten.
Als nach dem Frieden von Tilsit 1807 Napoleon unsere Heimat seinem Reiche
einverleibte, da fand er in den Bewohnern keine großen Widersacher. Die
Durchziehenden wußten für ihren Kaiser Begeisterung zu entfachen. Auf dem
Hofe Stegerhof war ein Porzellan-Teller von einem französischen Soldaten
zurück gelassen. Auf dem Rande desselben standen eine ganze Anzahl von
Schlachtennamen in Lorbeer- und Eichenkränzen, die Napoleon siegreich
geschlagen hatte. (Der Teller ist leider in den Besitz des verstorbenen
Winterschuldirektors B. Hinsken übergegangen.) Der einzige Sohn und Hoferbe
des Hofes Prien in der Westrich war so von dem Soldatenleben begeistert, daß
er täglich seine Eltern quälte, um die Einwilligung zum Eintritt in die
französische Armee. Alle Bedenken seiner alten Eltern schlug er in den Wind;
bei seinen landwirtschaftlichen Arbeiten übte er sich schon: klopfte Griffe
mit Gabel und Schaufel, marschierte hinter dem Pfluge und ritte militärisch
vom Felde nach Hause. Mit schwerem Herzen mußten die Eltern den Jungen zu
Willen sein. Er wurde nach Frankreich geschickt, dort ausgebildet und zog mit
dem französischen Heere nach Spanien. Lange hörte man nichts von ihm. Nach
vielen Monaten soll dann ein Brief eingetroffen sein, darinnen geschrieben
stand, daß der Sohn „sehr tapfer gekämpft, schwer verwundet worden und
dann jämmerlich verbrennet worden sei“. Man erzählte, die Eltern hätten
trotz dieser Nachricht noch immer auf die Heimkunft gewartet, wären bei jedem
Heckenschlag aufgesprungen und ans Fenster geeilt, um zu sehen, ob der
Ankömmling nicht der erwartete Sohn sei. Frühes Siechtum der beiden Alten
und Interesselosigkeit an der Verwaltung des Hofes waren die anderen Folgen
dieses Jugendstreiches.
Man sieht, wie Napoleons Siege, seine Gerechtigkeit und Fürsorge für die
wirtschaftlich schwache Klasse die einfachen Leute in den Bann schlugen. Mit
einem Federstrich befreite Napoleon die Leute von den althergebrachten Hand-
und Spanndiensten, die sie den Pfarrhöfen und zum Teil auch dem Grafen zu
Lembeck zu leisten hatten. Das gefiel. Der Pfarrer von Erle hatte eine große
Landwirtschaft. Ein jeder Bauer mußte „einmal beim Gras und einmal beim
Stroh“ morgens um 7 Uhr mit seinem Gespann auf dem Pastorat erscheinen und
seine Dienste leisten. Jeder Kötter mußte morgens schon um 6 Uhr antreten
und Handdienste leisten. Das war nun vorbei. Der Pfarrer stand nun ohne Hilfe
und war gezwungen, sich Knechte und Pferde zu halten, um aus dem Acker seinen
Unterhalt zu ziehen. Die Dienstleistungen kamen auch nach dem Befreiungskriege
nicht wieder. Die Pastöre der Herrlichkeit wurden dadurch so geschädigt,
daß sie ihre ganze Haushaltung auf den vollständigen Betrieb der
Landwirtschaft mit Knechten und Mägden einstellen mußten. Auch mußten die
Pfarrhäuser zum Teil umgebaut werden, um den Betrieb unterzubringen. Als man
von Münster den Rat gab, gegen die Leute zu prozessen, erklärten die
Pastöre der Herrlichkeit, sie würden nicht gegen ihre Pfarrkinder ans
Gericht gehen. Pastor Lohede schreibt: „Weil ich die Spanndienste von den
wenigsten erhalten konnte, habe ich, um den Besitzstand zu erhalten, meine
Klagen beym Hochw. Vicariat und Bürgermeister Grüter halfen nichts – war
die geringe Entschädigung von 1/8 rx klevisch von jedem Bauer ausbedungen, da
sie alle bei Wolberg versammelt waren, und am Ende dann mit ein Pferd und
Ackergerähte angeschafft, dazu habe ich ohne Entschädigung den Scoppen
vergrößert und den Pferdestall im Hause machen lassen, weil ich darum nicht
erst Supplizieren konnte. Auch mit den Handdiensten ist es so schlimm, daß
ich mir gleich einen Knecht angenommen habe. In diesem Jahre 1819 habe ich
durch Supplik erreicht, daß die Diele neu gedockt wird mit Zugabe von 1500
neuen Ziegeln. Suendorp und Wolberg haben beydes accordirt zu 55 rx“. Das
waren die Folgen der Aufhebung der Hand- und Spanndienste in den Gemeinden.
Diese Befreiung schrieb man in der hiesigen Gegend dem französischen Kaiser
zu, da sie unter den Franzosen zu Ausführung kam, während Minister v. Stein
in Preußen dieselbe Erleichterung schaffte.
Napoleon teilte das Land in Departements-Provinzen, diese in
Arrondissements-Bezirke, diese zerfielen wieder in Kantone = Kreise, diese in
Mairien oder Bürgermeistereien. Unsere Heimat gehörte zum Lippedepartement
und zum Arrondissement Rees, zum Kanton Ringenberg und zur Mairie
Altschermbeck. Um eine bessere Verbindung mit den neu eroberten Departements
herzustellen, wurde von Napoleon die Verlängerung der Chaussee von Paris nach
Wesel, von Wesel über Münster-Osnabrück bis Hamburg befohlen und mit dem
Bau derselben schon im Herbste 1811 begonnen. „Sie ist ein großes Denkmal,
welches uns Frankreich oder vielmehr sein Beherrscher hinterlassen hat und
wenn gleich dieses Werk zur Erreichung seiner Zwecke nötig war, so ist doch
zu vermuten, daß es auch einen politischen Grund hatte, indem durch diesen
Bau Tausende von Händen mehrere Jahre Beschäftigung und einen guten
Verdienst erhielten, und ihnen die vielen anderen Opfer vergessen machte, die
gebracht werden mußten, auch kam eine bedeutende Geldsumme in den hiesigen
Gegenden in Kurs, und das Ansehen gewann, als sollte durch ähnliche Mittel
das gewichene sonstige Verdienst ersetzt werden, um dadurch der Untertanen
Zuneigung zum Gouvernement zu erschleichen, welche Mittel allerdings im ersten
Augenblick wirken konnten.“ (Chronik Hüning.)
Am 10. Januar 1812 trat die Verwaltung der Steuerauflagen auf Getränke und
Tabak in Tätigkeit durch die Gouvernements. Am 1. Juli 1812 wurden die
Douanen oder Zollinien gegen das Großherzogtum Berg, dessen Grenze die Lippe
von Wesel bis Haltern bildete und gegen Holland gebildet. Eine solche Zollinie
führte durch die Westrich und war durch Pfähle (sogen. Franzosenpfähle)
bezeichnet. Durch diese Maßregel stiegen die Kolonialwaren ungeheuer. Ein
Pfund Kaffee kostete 2 clevische Thaler oder 1 ½ Reichstaler. Man mußte
verzichten. Als Ersatz röstete man Korn, Erbsen, Bohnen und Brotkrusten.
Manches Mütterchen soll geseufzt haben „Ach, könnte ich ihn noch einmal
riechen!“ Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Verhältnisse auch hier in
Erle zum Schmuggeln verleiteten, wie es vom Bürgermeister Hüning von der
Lippelinie erzählt wird. Gelegenheit macht Diebe. Daß einige viel Geld
verdient hatten und reich geworden seien, wurde wohl erzählt.
Mein Urgroßvater war ein Hüne von Gestalt und Kraft. Von Beruf war er
Landwirt, Schreiner und Drechsler. Spezialist war ein der Verfertigung und
Ausbesserung von Spinnrädern, die er aus der ganzen Umgegend in Arbeit bekam.
Wenn die Arbeit in der Heimat nicht genügend Brot abgab, dann nahm er sein
Gerät auf seinen breiten Rücken und wanderte in der Nacht von Sonntag auf
den Montag geraden Weges durch den Diersfort, Brünen nach Elten. Hier fand er
in einer größeren Werkstatt immer lohnende Beschäftigung. Am
Samstagnachmittag ging es zurück zur Familie, beladen mit allem, was das
Rheinland für die Haushaltung billiger und besser bot. So half er sich durch
die schwierige Zeit mit seiner großen Familie.
Der „Bangen Tages“ muß auch noch gedacht werden. Urplötzlich kam eine
gewaltige Bewegung in die Männerwelt. Fluchtartig liefen alle Männer, ohne
jede Vorbereitung oder Ueberlegung, so wie sie arbeiteten, oft ohne Rock und
Kopfbedeckung davon mit dem Angstruf: „Do kommt se an!“ oder: „Do sünd
se!“ Die Rhader liefen in die Oestrich, die Oestricher stürmten ins Dorf,
die Dörfer und Westricher stürzten in die Sielhorst oder in den Dämmerwald.
Erst im tiefsten Walde beruhigte man sich und wartete dort bis zum Abend, um
sich dann heimlich seiner Familie wiederzugeben. Dieser „bange Tag“ soll
durch das ganze Münsterland sich gezeigt haben. Man nennt den Oktober 1806.
Wer erregte so plötzlich die Furcht? Die preußische Werbungsweise Friedrich
Wilhelms I. mochte noch im Gedächtnis sein. Vielleicht zeigte sich eine in
der Schlacht bei Jena-Auerstädt oder Saalfeld geschlagene Truppe des
preußischen Heeres im Norden, und löste nun lawinenartig die Flucht aller
Männer aus bis an den Rhein. Vor dem Militärdienst hatte der
münsterländische Bauer Angst.
Wenn französische Truppenteile zur Einquartierung kamen, so eilte der
Bauernbote (damals Thies“) durch die Gemeinde und bestellte an jeder Tür:
„Morgen 3 Uhr Volk affhalen!“ Die einrückenden Truppen machten auf dem
Kanonenplatz halt, und die Quartiere wurden dann verteilt. Jeder nahm sich
seine Einquartierung und ging voran, trug sogar gern Gewehr und Tornister.
Angekommen, trat der Hauswirt den Soldaten mit einer Flasche Branntwein
entgegen, schwenkte die Flasche und rief: „Viavat Napoleon!“ Die Soldaten
waren dann guter Dinge. Sie waren im ganzen recht mäßig im Genuß des
Branntweins und wußten mit den Leuten recht gut fertig zu werden, trotz der
verschiedenen Sprache. Sie schlossen sich in ihrem lebhaften Temperament den
Leuten und besonders den Kindern an, verfertigten auch allerhand
Gebrauchsgegenstände, Schmuck- und Spielsachen, so daß das Verhältnis
zwischen Besatzung und Einwohner ein ganz gutes zu nennen war. Selten kam es
zu Zwistigkeiten, und wenn es zu Auftritten kam, dann wurden diese von den
Soldaten selbst unter sich geregelt, und zwar recht eindringlich und
nachhaltig. Die Einwohner fürchteten die Einquartierung nicht sonderlich, da
die Truppen sich vielfach selbst verpflegten oder die Verpflegung bezahlten.
Im die Franzosen in guter Stimmung zu erhalten, durfte niemals die Suppe auf
dem Tische fehlen.
Schlimmer und gefürchteter waren die Anforderungen von Spanndiensten. Es
wurden die Pferde der Truppe möglichst geschont, dagegen mußte von den
Gemeinden viele Wagen und Pferde gestellt werden, welche die Bagage auf den
schlechten Wegen fortschleppen mußten. Der Eigentümer konnte nebenher
traben, während die Soldaten vom Wagen fuhren und die Pferde bis zur vollen
Erschöpfung abtrieben. Eine solche Behandlung machte die Bauern erfinderisch.
Um ihre Tiere und sich zu schonen, bauten sie in dem Dickicht der Sielhorst
oder des Dämmerwaldes Notställe und stellten dort alle Tiere, denen Gefahr
drohte, solange unter, bis die Gefahr vorüber war. Man grub ein Loch und warf
die Erde auf den Rand bis eine Tiefe von ungefähr 2 Meter vorhanden war,
deckte das Ganze mit Stangen, Reisig und Moos und das Quartier für die
Gefährdeten war da. Unzählige Male wurde es benutzt. Wenn Pferde und Männer
angefordert wurden, waren beide von der Reise noch nicht wieder zurück. Auch
Männer wurden als Wegweise und zur Arbeit gerne mitgenommen; waren Wagen
versunken, dann mußten sie eben aus dem Moraste gehoben werden; diese Arbeit
überließen die Soldaten gern den mitgenommenen Mannsleuten.
Kamen Truppenzüge, so mußte auch mein starker Urgroßvater verschwinden. Er
hatte sein Versteck im Heuhaufen auf dem Hausboden vor dem Brettergiebel.
Durch die Fugen der eichenen Bretter konnte er dann immerhin das Treiben auf
seinem Hofe beobachten. Aus seinem Versteck sah er die Regimenter, die im
März 1812 nach Rußland zogen. Sie kamen auf der breiten Landstraße vom
Diesfort an Lagermann vorbei, zogen dann durch das östricher Feld auf Rhade
und Lembeck zu. Er konnte ihre Schönheit und ihren Glanz nicht genug rühmen.
„Ridder te Päadem grot van Schwöade, rot van Gold, o wat is de Ridder
stolt.“ So sang noch Großvater, wenn ich auf seinem Knie ritt.
Es war im März, als die Durchzüge sich folgten. Ein jeder Soldat hatte eine
Kirschblüte am Helm. Das Frühjahr 1812 muß also recht frühzeitig und dem
Auszuge günstig gewesen sein. Manche Leute prophezeiten noch viel später in
Erle: „Wenn im März der Kirschbaum blüht, dann gibt es Krieg“. – Die
Rüstung der durchziehenden Reiterregimenter war so glänzend, daß man seine
Augen beschatten mußte, wenn die Sonne sie beschien.
Die Verteuerung der Kolonialwaren, die Auflagen auf Getränke und Tabak
(welche mit dem größten Abscheu aufgenommen wurden), die Dienstführung der
französischen Steuerbeamten (Douanen), die selbst bei den Franzosen verhaßt
waren, die unaufhörlichen Spann- und Handdienste ließen die Liebe zu dem
neuen Herrscher erkalten. Furcht und Schrecken erfaßten die Bewohner, als die
Franzosen Aushebungen für den Kriegsdienst vorschrieben. Unter der Regierung
des Fürstbischofs von Münster war das nie geschehen. Die Salm-Salmsche
Regierung hatte als Mitglied des Rheinbundes Napoleons Kriegszüge mit Geld
unterstützt; nun verlangte man junge, kräftige Männer, die ihr Leben und
Blut einsetzen sollen für – Napoleon. „Es erhob sich ein Wehklagen.“ (Hüning
Chronik.)
Ueber die Aushebung junger Männer aus der Herrlichkeit und deren Schicksal im
Feldzug nach Rußland gibt Dr. Hemsing durch seine Arbeit: Die Herrlichkeit
Lembeck in der Napoleonischen Zeit – 3. Fortsetzung – im Heimatkalender
von 1931 auf Seite 59 bestens Aufschluß.
Im Juli 1813 wurde eine neue Lieferung von 380 Pferden behufs Ergänzung des
Pferdematerials der Armee auf das Lippe-Departement ausgeschrieben. Der
Gerhard Böckenhoff in Erle mußte ein Pferd stellen, welches zu 480 Franks
tariert, aber nicht gleich bezahlt wurde. Die Summe wurde nach Friedenschluß
von Frankreich gefordert und gezahlt.
Die Transporte von Geschützen und Munitionswagen, welche zur großen Armee
abgingen, und welche durch Vorspann weggeschafft werden mußten, waren bei
allen eins der größten Übel. Nicht selten wurden täglich 300-500
Vorspannpferde nötig und aus den benachbarten Gemeinden herbeigeschafft. Die
Vorspanngestellungen wurden bis Ende Oktober 1813 noch häufiger durch
Wegschaffung der Verwundeten von Osnabrück nach Wesel, als auch durch die
Flucht der Douanen (Steuerermpfanger) und der französischen Beamten, die in
den neuen Departements angestellt gewesen waren. Am 4., 5. und 6. November war
die Flucht allgemein. Allerlei französische Truppen eilten zum Rhein und
biwakierten in Altschermbeck und verrammelten mit Holz und Wagen die Zugänge
zum Orte. Bei Nacht und Nebel zogen sie nach Wesel ab. Die Trainkolonnen
forderten viel Vorspann an, doch wurde es verweigert. Sie nahmen mit Gewalt
vier Pferde fort. Eines entfernte sich heimlich von Wesel und kam heim, die
anderen drei wurden über den Rhein mitgenommen. Alle Klagen bei dem
Kommandanten General Bourke zu Wesel blieben erfolglos. Am 7. November 1813
marschierte ohne Aufenthalt ein Bataillon Infanterie durch nach Wesel. Diese
waren die letzten französischen Truppen, die unsere Heimat sah.
Wesel war von den Franzosen vorsorglich befestigt worden während des
Frühjahres und Sommers 1813. Von Februar bis Juni mußte die Mairie
Altschermbeck täglich 15 dreispännige Wagen zum Fahren von Pallisaden zur
Befestigung von Wesel stellen. In gleicher Weise mußten täglich 15 Arbeiter
im Dämmerwald und in Drewenack Holz zu demselben Zwecke fällen. Von April
bis Juli mußten außerdem täglich 15 Handwerker von hier in Wesel zu dem
Festungsbau gestellt werden. Alle diese bekamen auch in Wesel einen mäßigen
Tageslohn ausbezahlt. Neben diesen Lasten mußte die Mairie Altschermbeck noch
3187 Kilogramm Roggenmehl liefern. (Chronik Hüning.)
Vom 8. bis zum 14. November trat eine vollständige Ruhe ein. Der 14. November
1813 war der denkwürdigste Tag der hiesigen Gegend durch das Einrücken eines
Detachement Kosaken von 70 Mann unter Führung des russischen Leutnants
Falkenstein. Die Ankunft dieser hier nie gesehenen fremden Krieger erregte
großes Aufsehen, aber noch mehr Freude. Diese hielten nur kurze Rast. Am
Abend dieses Tages aber rückte eine stärkere Abteilung Kosaken vom Pulk des
Obristen Bichaloni und eines Eskadron des Pommerschen Husaren-Regiments unter
dem Befehl des Rittmeisters von Winz ein. Mit welcher Freude diese deutschen
Vaterlandsverteidiger empfangen wurden, läßt sich nicht schreiben. Mit jedem
Tage rückten hier neue Korps ein, welche Teils nach Holland, teils zu dem
Belagerungskorps in Wesel gehörten. Am 24. Dezember 1813 rückten die Truppen
unter Befehl des Generals Borsche näher nach Wesel, in der Absicht, die
Festung zu überrumpeln. Ihre Absicht wurde aber vereitelt. Das Unternehmen
erforderte eine Menge Vorspanne, es mußten Leitern, Stroh und Bindfaden und
dergl. Material, welches man sich zum Besteigen der Wälle bedienen wollte,
geliefert werden. Am 25. Dezember, auf Christfest, kehrte die ganze Division
in ihre alten Quartiere zurück. Am 27. Dezember erfolgte der Abmarsch. Es
wurden diese Truppen durch ein russisches Korps unter Befehl des Generals
Prinzen Marinskin ersetzt. Diese fortwährenden Durchzüge und die stehenden
Truppen verursachten eine Unruhe und Bewegung, die nicht zu beschreiben ist.
Die Kosten der Verpflegung dieser Truppen betrugen im Amt Altschermbeck 19000
Thl. Preuß. Courant. Das Jahr 1814 fing mit den nämlichen Unruhen an, mit
welchem das Jahr 1813 geschlossen hatte. Am 1. Januar rückte das
Kosaken-Pulk des Obristen Rossensty, am 3. Januar das Kosaken-Pulk des
Obristen Satorius, am 4. Januar 2 Pulks Kosaken unter Befehl des Generals
Illowisky mit mehreren russischen Batterien, am 18. Januar kam das
Kosaken-Pulk des Obristen Cenisky, am 19. Januar traf eine Batterie und
Infanterie vom Regiment Schmolensky und 2 Pulks Kosaken ein, am 20.
Januar kam ein Pulk Baskieren unter dem Prinzen Gayazin. Am 10. Februar 1814
kam ein Regiment Kavallerie, die Petersburger Volontairs und blieben bis zum
4. März. Alsdann wurde das Blockade-Korps durch preußische Truppen unter
General von Putlitz ersetzt. (Chronik Hüning.)
„Die unbeschreibliche Freude“, die in der Bürgermeisterei Altschermbeck
empfunden wurde, hatte wohl darin ihre Ursache, daß man statt der ersten
Kosaken nun pommersche Husaren im Quartier hatte. Doch war die Freude von
kurzer Dauer, Kosaken und nichts wie Kosaken kamen durch die engere Heimat. Es
war ein rechter „Kosakenwinter“. 7 Monate lang. Sie hatten die Aufgabe,
Wesel zu belagern oder zu erobern, doch scheinen die Franzosen keine
sonderliche Angst vor den wilden Reitern gehabt zu haben; denn sie machten
immerhin gefährliche Ausfälle aus Wesel und brachten den Russen empfindliche
Verluste. Darum wurde schleunigst der Landsturm organisiert und mit
allerlei Waffen ausgerüstet. Dieser Landsturm, welcher zum Wachdienst als
Vorhut vor Wesel stand, bildete täglich eine Truppe von 1500-200 Mann. Da sie
fürs Vaterland im Feuer gegen den Feind gefochten hatten, bekamen sie die
vaterländische Denkmünze von 1813/14.
Die Kosaken waren wilde Gesellen. Man empfing sie mit einer Flasche Branntwein
und einem „Vivat Alexander!“ Sie ergriffen die Flasche und leerten sie in
einem Zuge und verlangten mehr. Das Trinken aus der Flasche war ihnen viel zu
langweilig; daher gossen sie den begehrten Stoff in Schüssel und hoben diese
an den Mund bis sie ausgetrunken waren. Berauscht legten sie sich in den
Schnee mit ihren Pelzen und verschliefen ihren Rausch. Das Sauerkraut holte
man sich aus en Einmachfässern und verzehrte es ungekocht, ungewaschen mit
der Brühe. Das ihnen zugeteilte Fleisch wurde kurze Zeit mit der Feuerzange
über das Herdfeuer gehalten und verschwand dann durch den struppigen
schwarzen Bart zwischen den weißen Zähnen. Die Knochen wurden gespalten und
das Mark verzehrt. Sie nahmen an Lebensmittel alles, was sie bekommen konnten.
Gebrauchten sie es selbst nicht, dann verfütterten sie es an ihre Pferde.
Besonders mußte man das Brot vor ihnen verstecken. Im Hause meines
Urgroßvaters hatte man auf dem Boden des Backspeichers trockenes Holz für
die Werkstelle aufgestapelt. Da hinein versteckte man die Brote. Wer Hunger
spürte, der stieg auf den Backofen, schon ein Brett auf die Seite und
gelangte dann in den Raum; man brach ein Stück Brot ab und steckte es in die
Tasche, um es bei der Arbeit heimlich zu essen.
Die Kosaken waren frech und dreist, wenn sie sahen, daß die Leute Angst vor
ihnen hatten; traten aber kräftige, selbstbewußte Männer ihnen entgegen, so
duckten sie sich und fügten sich den Anordnungen. Nach dem mißglückten
Ueberrumpelungsversuch von Wesel, kamen am Abend des Christtages eine solche
Menge Kosaken nach Erle, daß man sie nicht unterbringen konnte. Auf den
Bauernhöfen hatte man 40 und mehr Reiter und Pferde. Das war ein gar
schlimmer Abend nach einem glücklichen Tage ohne Einquartierung. Mein
Urgroßvater wurde zwischen 10 und 11 Uhr noch von seiner Schwester geholt, um
Ordnung zu schaffen. Die Schwester war den Kosaken nicht vollgültig
erschienen. Sie belegten daher die Tenne nicht nur mit Pferden, sondern auch
die große Bauernküche. Zur Unterlage für die Pferde hatte man ungedroschene
Roggengarben vom Boden geworfen und damit die Tenne und Küche bedeckt. Zu
diesem hatte man in der Küche ein wüstes Feuer entfacht, nicht nur unter dem
Rauchfang, sondern auch unter dem Wiemen, so daß man befürchten mußte, daß
das Haus jeden Augenblick in Flammen stehen würde. In diesem Durcheinander
wuschen und trockneten die Kosaken ihre Kleider und Ausrüstung. Mein
Urgroßvater nahm seinen guten Knotenstock und mußte nun als Hofbesitzer von
einem Ausgange heimkehren. Er kam auf die Tenne und stellte zunächst die
Knechte in derber Weise über die Verschwendung des Brotkornes zur Rede, und
als diese die Schuld von sich abwiesen, ging er zu dem fremden Volk und seine
bestimmte Forderung, die Roggengarben zu entfernen und das Feuer nur auf dem
Herde zu halten, drang auch bei diesen durch; man fügte sich ihm, denn jeder
glaubte, er sei der Hofbesitzer. So blieb er einige Tage dort, während der
Bauer sich solange zurückziehen mußte. Auf dem Hofe Stegerhoff kam es auch
zu einem Zwischenfall. Der Hofbesitzer hatte auch Streit mit den Kosaken
bekommen. Diese ziehen ihre krummen Säbel und drängen ihn zurück bis auf
den Herd. Der Bauer hält mit dem Halbaum in der Hand die scharfen Hiebe von
sich ab. Der niedrige Rauchfang schützt seinen Kopf. Auf das Geschrei kommt
noch ein Kosak durch die Haustür herein und läßt diese offen stehen. Der in
die Enge getriebene Bauer bemerkt bald seinen Vorteil, er stößt einen Kerl
mit der Faust vor die Brust, daß er rücklings in die Küche fällt, und
durch die Lücke springt er auf die offene Tür ins Freie hinaus. Die scharfen
Säbelhiebe trafen nicht ihn, sondern die eichene Tür und sind heute noch zu
sehen.
Außerordentlich lästig waren die Kosaken den Mädchen und Frauen. Man mußte
sich gegen die Kerle schützen, in dem man sich möglichst unappetitlich
zeigte. Ungewaschen, ungekämmt, in lumpigen Kleidern, oft noch beschmiert mit
Schweinefutter, so wagte man sich hinaus. Doch half es nicht immer. Auf einem
Hofe war ein Kosak hinter einer Magd her. Das Mädchen flüchtete in die
Kammer und warf den Riegel vor und floh durch das Fensterchen weiter. Der
Kosak rannte nach bis an die Tür. Als er diese verschlossen fand, rannte er
seine Lanze durch die Türfüllung. Hätte das Mädchen mit seinem Rücken die
Tür geschlossen gehalten, so wäre es durchbohrt worden.
Es ist wohl allgemein bekannt, daß die Kosaken alles mitnahmen, was sie
irgendwie gebrauchen konnten. Besonders scharf waren sie auf Pferdegeschirr;
ja selbst Pferde vertauschten sie gerne gegen bessere. Als im Mai 1814 die
letzten Kosaken abgezogen waren, kam noch ein verspäteter Sohn des Don
nachgetrabt; hinter ihm her ein Bauer. Der Kosak hatte des Bauern Riemenzeug
mitgenommen und sein altes dafür zurückgelassen. Auf dem Kirchplatz im Dorfe
faßte man ihn. Er wurde vom Pferde gerissen und derart verprügelt, daß die
dumpfen Schläge im ganzen Dorfe hörbar waren. Man nahm ihm die gestohlenen
Sachen weg und sandte ihn seinen schwarzen, pelztragenden Kameraden nach.
Anfangs Mai 1814 zogen die Franzosen aus Wesel über den Rhein zurück, und
die Belagerungsarmee war überflüssig geworden. Nach einem feierlichen Einzug
in Wesel, an dem auch der Landsturm der ganzen Umgegend teilnahm, zogen auch
die Russen über den Rhein. Bei ihrem Abmarsch nahmen die Kosaken mehrere
Fuhren bis Arnheim mit, andere kamen überhaupt nicht zurück, weil die Pferde
totgetrieben oder die Wagen zusammengebrochen waren. Die Anspanner retteten
sich durch die Flucht bei Nacht und Nebel. Endlich, nach sieben langen
Monaten, war der berüchtigte Kosakenwinter zu Ende.
Waren unsere Väter nicht groß und stark im Ertragen der Kriegsschicksale?
Können wir uns ihnen gleich erachten? Ernst von Wildenbruch hat unsere Blicke
dahin gewiesen:
„Wie die Väter einst gestritten,
Was sie trugen und erlitten,
Sagt euch der Geschichte Buch.
Laßt es nicht Papier nur bleiben;
In die Seele müßt ihrs schreiben,
Einen Wahr- und Lebensspruch!“
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Dieser Text wird mit freundlicher
Genehmigung von Elisabeth und Julius Lammersmann hier gezeigt. Das berechtigt
aber nicht zu der Annahme, das dieser im Sinne des Urheberrechts als frei
zu betrachten sei und daher von jedermann benutzt werden dürfe. Alle Rechte
liegen weiterhin bei den Erben von Heinrich Lammersmann.