Die Gestaltung
unserer Heimat
von Hauptlehrer Heinrich Lammersmann 1924
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Lieber
Freund, hast Du auch schon darüber nachgedacht, wie der Boden, durch den Du
hinter Deinem Gespann den Pflug leitest, entstanden ist? Vielleicht denkst Du
einfach und schlicht: „Das hat unser lieber Herrgott alles schon gut
gemacht.“ Und damit bist Du zufrieden. Aber der Herrgott hat viele und
gewaltige Knechte, die ihm auf sein Geheiß zur Hand gegangen sind, nämlich
Luft, Wasser, Feuer u.a.m. So will ich es Dir nur verraten, wer zuletzt Sand,
Sumpf, Lehm und Ton verteilte: es ist das Wasser gewesen. Da, wo Du jetzt
pflügst und Deinen Acker pflegst, da stand vor vielen, vielen tausend Jahren
das Wasser. Selbst der Hahn auf dem höchsten Turme der Herrlichkeit hätte
sich, wenn er schon da gewesen wäre, nicht nach dem Winde drehen können, da
das Wasser ihn umflutete. Und wo jetzt die Schwalben ziehen, da schwammen in
jenen Urzeiten die Fische. Du schüttelst ungläubig das graue und braune
Haupt, und doch ist mir der Beweis leicht. Bücke Dich, wo Du stehst und
ergreife ein Kieselsteinchen, das überall zu finden ist. Frage dieses kleine
Ding, warum es so schön, so rund und abgeschliffen ist. Es gibt Dir gewiß
Antwort. Nicht Menschenkraft ist daran verschwendet, und vom Liegen werden die
scharfen Bruchstellen auch nicht abgerundet.
Es ist die Arbeit des Meeres, die Du da bestaunen kannst. Hoch oben in
Skandinavien, da ist ihre Heimat, ihr Muttergestein. Der Frost hat sie
losgesprengt und sie ins Wasser gekollert. Das Wasser war aber ein unruhiger
Geselle. Die Wogen trieben die abgesprengten scharfen Kiesel auf dem
Meeresboden hin und her, bald tanzend, bald stürmisch peitschend, so daß sie
knirschend und klappernd mit ihren Leidesgenossen zusammenstießen und bald
über felsigen Meeresboden, bald über erdigen Meeresgrund dahingeworfen
wurden. Gott weiß, wie lange die Reise von Skandinavien bis in die
Herrlichkeit gedauert hat. Doch sie sind in Fülle angekommen und zwar
säuberlich geschliffen, alles Eckige haben sie auf der Wanderschaft
zurückgelassen. In Vertiefungen, oder auch dort, wo Anhöhen im Meeresboden
zu überwinden waren, kamen sie zur Ruhe und lagerten sich meterdick als
Kiesnester und Kiesbänke, wie man sie an der Landstraße Erle-Dorsten, um
Erle und im Boden antreffen kann. Stehst Du vor einem senkrechten Schnitt, so
wirst Du noch recht gut die Arbeit der Meereswellen bemerken können, Die
letzteren haben auch meistens groben Sand mit den Kieseln abgelagert, und
dieser Sand hat nun eine recht verschiedene Färbung; je nach Menge der
Eisenasche, die ihm beigemengt ist, ist er mehr oder weniger rot. Es sind
infolgedessen auf- und abgehende Schichten bemerkbar, die die Bewegung der
Wellen nach verraten.
Wenn Du die Augen gut gebrauchst, so kannst Du in der Kiesgrube noch andere
merkwürdige Dinge erleben. Es finde sich, wenn auch nicht gerade häufig,
doch vereinzelt halbkugelförmige Steingestalten. Diese sind anscheinend wie
die Schildkröte mit Schildpatt bedeckt gewesen. Der Rücken ist durch
besondere Linien in mehrere Teile geteilt. Es sind Seeigel, die sich auch im
Wasser des Lebens gefreut haben, nach dem Tode aber auf dem Meeresboden mit
den Kieselsteinen das Schicksal geteilt haben. Ihr Panzer ist verkieselt und
so sind sie unserer Zeit aufbewahrt geblieben. Abdrücke von Seemuscheln
finden wir in großer Anzahl oft haufenweise im Sandstein. Der große
Wasserdruck hat ihre Formen so genau geprägt, daß wir sie nicht besser
wünschen können; und sie sind stumme Zeugen der Flutzeit in unserer Heimat.
Die Brandung des Meeres hat oft ungeheure Mengen Kies und kleines Geröll
zuhauf gefegt – wie im Herzen der Herrlichkeit, Erle-Dorsten, und
Erle-Raesfeld – und dieses Geröll teils mit einem Quarzsand, teils mit
lehmigen Sand gemischt, bildet eine Höhenwelle in der Landschaft, die wir
Grundmoräne nennen. Es liegt nun dieses Geröll nicht überall zutage, es ist
oft beim Abfluß des Wassers (Diluvium) mit dickem Sandlager bedeckt. Im Dorfe
Erle hört die Moräne ungefähr auf und liegt etwa 3 Meter unter der
Oberfläche mit lehmigem Sand vermischt und hält uns das Wasser in günstiger
Nähe der Pflanzen fest.
Auf den
heimatlichen Fluren liegen oft ungeheuere, schwere, dicke Steine, die oft
mehrere Meter im Geviert messen und auch kleinere, die hinabgehen bis zu den
Pflastersteinen der Hausdiele oder Straße. Auf diese zeigen nie scharfe
Bruchkanten, sondern immer schön abgerundete Ecken und Kanten, ein Zeichen,
daß sie auch schon allerlei Reibungen und Zusammenstöße mitgemacht haben.
Das Wasser kann doch mit diesen ungeheuren und gewaltigen nicht gespielt
haben? Das Wasser der Flutzeit konnte diese Steinblöcke nicht fortbewegen wie
das Geröll in die Kiesgrube, und doch hat es diesen Steinen (eratischen
Blöcke) aus dem hohen fernen Norden das Wandern nach Süden bis in unsere
Heimat ermöglicht. Freilich weiter nach Süden als unserer Heimat liegt, hat
es diese Wandersteine nicht gebracht, einige Kilometer westlich von Erle da
findest Du die letzten und weiter nach Westen oder Südwesten suchst Du sie
vergeblich. Du fragst verwundert nach dem Wie der Bewegung und es war doch
ganz einfach und natürlich. Die gewaltige Flut, die den Norden unseres
Vaterlandes und unser Münsterland bedeckte, erstarrte für lange Zeit zu Eis.
Man nennt diese Zeit „Eiszeit“. Alles, bis zu dem steil aufstrebenden
Norwegischen Felsen und weiter nach Norden, war eine Eiswüste. Wir dürfen
uns aber keine glatte Eisdecke vorstellen, als wenn heuer der Dorfteich oder
der Mühlenteich zufriert, die gewaltigen Eismassen werden sich vielmehr
gegenseitig geschoben, gehoben und auch gesenkt haben, so daß eine richtig
ungeheuer große Eisberglandschaft entstand mit Bergen und Tälern.
Ganz gewiß war in der Eiszeit die Kälte und Frostarbeit um so stärker, je
weiter das Eisgebiet nach Norden lag. Die fast senkrecht zum Himmel strebenden
Felsgebirge des hohen Nordens ragten mit ihrem Gipfel dem Eise zum Trotze
heraus. Die granitenen Bergspitzen hatten sich aber doch in ihrer Stärke
getäuscht. Der Frost griff sie mit aller Kraft an. Er träufelte in jede
Spalte Wasser und in nächsten Augenblick ließ er es wieder zu Eis gefrieren.
Da nun das Eis ein Zehntel Raum mehr nötig hat als das Wasser, so fand es in
der Spalte nicht Platz und das Gestein mußte weichen, wenn es auch Granit
war, und der Spalt wurde immer tiefer und größer. Die nötige Folge war,
daß gewaltig große und auch kleinere Granitblöcke vom Muttergestein
losgesprengt wurden und donnernd auf die Eisberge und Täler niederstürzten.
Auf der glatten Eisunterlage schoben sich diese Wandergesellen in die
Eistäler zusammen und kamen so auf eine schiefe Ebene. Neue
Absprengungen drückten und schoben die bereits in den Tälern liegenden nach
dem niedrigen Süden ab. So begann die Wanderschaft, die großen und schweren
Herren, die später Opfer- und Teufelssteine werden sollten, gebührend in der
Mitte, die kleineren an den Seiten als Trabanten. Wenn das Eistal aber oft eng
wurde, oder an hervorragenden Felsen vorbeikam, dann kam die Gesellschaft in
eine fürchterliches Gedränge, jeder wollte vor, da gab es arge Reibereien,
so daß selbst die granitenen Leiber Ritzen und Schrammen bekamen, die sie uns
jetzt noch zeigen können. Jede scharfe Kante wurde abgeschliffen. Nichts
hielt jedoch die Wanderschaft auf und wohin so ein Eistal führte, dahin kamen
auch die Wandersteine als „Moräne“ bis in unsere Herrlichkeit.
Nach langer,
langer Zeit hörte die Herrschaft des Eises und Frostes auf und nach und nach
kam die Wärme zur Geltung und verzehrt die wüste Eislandschaft von Süden
anfangend und immer weiter vordringend nach Norden. Da verloren nun die
Wandersteine ihre Unterlage und stürzten nun gerade dort, wie sie auf ihrer
Wanderschaft angekommen waren, ins Eiswasser und sind dort liegen geblieben
bis auf den heutigen Tag, stumme Zeugen einer uralten Zeit. Die Granitblöcke
mittlerer Größe hat man vielfach gebraucht in Fundamenten zu
Pfostenstellungen als Prellsteine, Grenzsteine u.a. m. Die kleinen Mitläufer
verwandte man vielfach als Pflastersteine oder sie bedecken noch die
Oberfläche der Erde dort, wo das Eis sie hat hergeben müssen. Doch auch das
Wasser sollte die Herrschaft nicht für immer behaupten. Besonders stark muß
der Druck desselben gewesen sein in der Gegend des Niederrheins. Dort stießen
die Wasser der Münsterischen Bucht und die der Kölner Bucht zusammen und
hatten das Bestreben, sich einen Ausweg nach den Niederlanden zu suchen. Es
stand ihnen da ein Hindernis im Wege in einem Gebirgswall von Cleve bis Elten
und über Elten weiter nach Norden. „Steter Tropfen höhlt den Stein“ und
„stete Arbeit bringt Erfolgt“. Die Wasser erhielten einen Durchfluß und
nun strömten die Wassermassen mit Gewalt hindurch und das Hindernis
zerschmolz und wich von Cleve bis Elten und machte ein großes Tor zur freien
Fahrt in die Niederlande frei. Brausend stürzte es nun vom südlichen
Münsterlande, von den Baumbergen an über die hohe Mark hinüber nach
Südwesten. Beim Sprunge über die hohe Mark fielen die Wogen scharf auf den
Boden und wühlten dort das Erdreich auf, schafften ein tiefes Tal und warfen
den Sand dorthin, wo nun das Feld sich befindet und dann die Bewegung wie ein
übermütiges Roß noch zweimal zu machen vor Rhade und zwischen Rhade und
Erle. Jedesmal wurde die mitgenommene Erdmasse in unmittelbarer Nähe wieder
abgesetzt. Bei Erle westlich vom Dorf muß das Wasser schon mehr zur Ruhe
gekommen sein, dort konnte es auch die leichteren und feineren Tonteilchen
ablagern (Lehmlager bei den Ziegeleien).
Während der Sprung über die hohe Mark Quertäler von Norden nach Süden
bewirkte, schaffte der beruhigte Abfluß westlich von Erle Längstäler, d.h.
Täler in der Richtung des Wasserflusses liegend. Die Bäche in den Tälern
sind die letzten Rinnsale des Diluviums. Wie der Heimatboden nun gestaltet
war, so ist der geblieben bis auf den heutigen Tag. Höchstens konnte ein
scharfer Wind hier und da eine nackte Sanddüne in etwa verändern und
bewegen. Berg und Tal waren da, es fehlten nur noch Wald und Wiese.
Hingestreckt nackt lag nun die Erdoberfläche unserer Heimat da, der Hitze und
Kälte, dem Regen und Schnee ausgesetzt. Unablässig arbeiteten diese Kräfte
an der Bildung des Ackerbodens aus dem frühen Meeresboden. Nach
verhältnismäßig kurzer Zeit begann die erste Flora zu sprießen und
schießen, ohne daß eine menschliche Hand den Samen gestreut hätte. Aber
woher kam der Same, wer brachte ihn? „Aus nichts kommt nichts“, denkst Du
ganz recht. Da waren wieder viele Knechte unseres Herrgotts an der Arbeit.
Zunächst war es die Flut selbst, die von den Ufern mit ihren Wellenschlägen
Pflanzen, oft ganze Bäume und Büsche fortriß und weithin trug und
zerstreute. Der oft lange keimfähige Samen und die Wurzelstöcke trieben und
brachten neues Leben. Dann waren auch Sturm und Wind tätig, flugfähige
Samenkörner weiterhin über das Neuland zu tragen, und Vögel und Tiere taten
desgleichen. So konnte die neue Heimat in ihrem Aufbau in Gottes Sonne und im
Wechsel der Jahreszeiten grünen, blühen, Früchte tragen und ruhen. Sterbend
bereicherten die Pflanzenleiber den Boden immer mehr mit Humus und bereitete
ihn vor, einst eine liebe Heimat für höhere Wesen zu werden.
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Dieser Text wird mit freundlicher
Genehmigung von Elisabeth und Julius Lammersmann hier gezeigt. Das berechtigt
aber nicht zu der Annahme, das dieser im Sinne des Urheberrechts als frei
zu betrachten sei und daher von jedermann benutzt werden dürfe. Alle Rechte
liegen weiterhin bei den Erben von Heinrich Lammersmann.